Buch: Juan S. Guse - Miami Punk
dystopia deOkay, ich habe seit dem Abitur keine “Buchbesprechung” mehr geschrieben und “Review” oder so will ich das hier auch nicht nennen… wie auch immer, ich habe Lust, meine Gedanken über ein Buch abzuladen, und diese Katgeorie heißt jetzt halt “Books”.
Es geht um “Miami Punk” von Juan S. Guse. Dieses Buch ist mir beim Offline-Stöbern wegen seines wunderschönen Cyberpunk-Covers sofort ins Auge gefallen:
Miami Punk ist sozusagen eine Mikro-Dystopie: es spielt (duh) in Miami, Florida, wo sich über Nacht der Atlantik weit ins Landesinnere zurückgezogen hat, woraufhin erst die Tourismusbranche und dann so ziemlich alles weitere in der Stadt zusammenbricht. Durch dieses Szenario wuseln eine Indiegame-Entwicklerin, ein Counterstrike-Team aus Wuppertal, ein sinnsuchender 18-jähriger und viele weitere Charaktere, und ein Verein von Verschwörungstheoretiker*innen und eine mysteriöse Behörde versuchen jeweils auf ihre Art, Antworten auf die Vorkommnisse zu finden. Die langsam kollabierende Gesellschaftsstruktur führt zu seltsamen Auswüchsen, wie dem ‘Schlaf’, Triebtäterkolonien oder Ringervereine in bunten Vans, die gegen die Krokodilplage kämpfen.
Alles in allem mag ich Miami Punk sehr, aber es hat bei mir einen etwas bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Das Ausgangsszenario finde ich absolut großartig - nach dem ersten Drittel wusste ich schon, eines der für mich besten Bücher des Jahres zu lesen. Die Charaktere und der Aufbau waren genau nach meinem Geschmack, die Welt hat die nötige Portion “Grittiness”, die Figuren haben Tiefe und insgesamt scheint sich die Welt nich allzu ernst zu nehmen; an jeder Ecke versteckt sich ein neuer WTF-Moment. Generell ist das Buch sehr fragmentiert - es besteht aus vielen kurzen Kapiteln mit wechselnden Sichtweisen und auch Fragmenten von z.B. Erinnerungen, Logfiles und Schriftstücken, die in der Story vorkommen und mit den Charakteren zusammenhängen. Etliche Male bekommt man kurze Einblicke in die Gedankenwelten von Nebencharakteren oder in überhaupt nebensächliche Sachverhalte, die sich irgendwo ereignen und hinter denen wiederum Massen von Geschichten stehen könnten. In dieser Hinsicht ist das Buch ein bisschen wie ein Wimmelbild.
Der chaotische Erzählstil gefällt mir wirklich gut; er macht das Buch unglaublich lebendig und die Welt “dicht”. Ich musste das Buch überdurchschnittlich oft zur Seite legen und Dinge, die angedeutet wurden, “zu Ende denken” und verdauen. Es stecken wahnsinnig viele nicht ausformulierte Geschichten in Miami Punk, und genau das hat mich am Buch gestört: es hätte unendlich viel mehr passieren können, man könnte aus der Ausgangssituation locker eine Fernsehserie mit fünf Staffeln machen oder (was mich extrem glücklick machen würde) eine Anthologie, in der tiefer in die Gedankenwelten der Charaktere eingetaucht wird, die in dieser Welt leben und den Untergang Miamis und dessen Implikationen aus ihrer Sicht beschreiben. Es hätten viel mehr Familiengeschichten, Verstrickungen und Mysterien ihren Lauf nehmen und mehr ausgearbeitet oder erklärt werden können, oder zumindest hätten mehr Handlungsstränge zu einem Ende geführt werden können (auch wenn das relativ abrupte Ende wiederum sehr gut in die Geschichte passt). Ich hätte mir gewünscht, dass das Tempo der Erzählung irgendwann etwas anzieht und (for the lack of a better word) mehr passiert. So, wie das Buch ist, gefällt es mir auch gut, aber ich fühle mich vom Ende nicht richtig befriedigt, weil ich gerne mehr aus dieser großartigen Welt gehört hätte.
Juan S. Guse erweist sich als wacher Beobachter von Menschen und den Dingen im Internet; Miami Punk ist vollgestopft mit Wissen über Nischenphänomene, Computerspiele und Verschwörungstheorien. Die langen Erklärungen über Counterstrike-Strategien sind unglaublich detailliert (und ein bisschen langatmig, aber das ist okay :) ) und es wird desöfteren in Richtung des akademischen Betriebes getreten. Lustigerweise war mir sofort klar, dass der Autor Soziologe ist, ohne dass ich genau sagen könnte, warum; manches hat mich ziemlich an mein eigenes Studium in dem Bereich erinnert. Der “spiritualistische Kongress” hat sich für mich in mancher Hinsicht ziemlich vom Chaos Communication Congress inspiriert angefühlt, auch wenn ich diesem natürlich keinen Okkultismus unterstellen möchte ;) aber als utopischer Ort, an dem sich Menschen harmonisch, selbstorganisiert und nicht profitorientiert austauschen, sind doch gewisse Parallelen erkennbar; es würde mich nicht überraschen, wenn Guse schon dort war. Ein echtes Highlight des Buches für mich waren auch die Beschreibungen der von Protagonistin Robin entwickelten Computerspiele - die wollte ich durch die Bank sofort ausprobieren und habe mich danach zum ersten Mal seit langem ernsthaft mit der Indiegame-Szene befasst. Und wer das Buch aufmerksam genug liest, bekommt auch Zugang zum WLAN-Netz von Robins Mitbewohner David, in dem man ein paar interessante Hintergrundinfos zum Buch finden kann.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Miami Punk eine Fortsetzung bekommen wird, würde es mir aber trotzdem sehr wünschen!